Die Regierung Chinas hat eine klare Vision für ihre Volksrepublik: China soll sich bis 2025 von der „Werkbank zur Welt“ zur hochinnovativen Industrienation entwickeln. Das Image von minderwertigen Produkten will China in wenigen Jahren hinter sich gelassen haben und setzt dabei auf die Digitalisierung und Automatisierung des gesamten produzierenden Gewerbes. Lorenz Mannl, Berater für Asien bei Schuler Consulting, berichtet von einem Möbelhersteller in China, der diesen Sprung gewagt hat.
Die Gründe für das große Interesse an Digitalisierungs- und Automatisierungstechnologien speziell im chinesischen Markt sind vielfältig: Neben stark ansteigenden Lohnkosten von acht bis zehn Prozent pro Jahr, nimmt auch die Komplexität des Marktes zu. Das Resultat sind erhöhte Anforderungen an die Flexibilität innerhalb der Fertigung. Darüber hinaus motiviert viele Unternehmer die Regierungs-Kampagne „Made in China 2025“, die im Jahr 2015 verabschiedet wurde. Diese Initiative verfolgt die Transformation Chinas zur hochinnovativen Industrienation. Das produzierende Gewerbe soll sich Schritt für Schritt von der sogenannten „Werkbank der Welt“ hin zu einem hochinnovativen, digitalisierten Sektor entwickeln. Das Ziel: Nach neuestem Stand der Technik fertigen und international wettbewerbsfähig sein.
Hohe Anforderungen und ein klares Ziel: Made in China 2025
Ausgehend von diesem Zukunftsbild wurden zehn Schlüsselindustrien identifiziert, in denen die Digitalisierung bis 2025 immens gesteigert werden soll. Ein begleitender Maßnahmenplan unterstützt die heimischen Hersteller bei dem Vorhaben, ihre Produktionsstätten zu modernisieren. Rund 300 Milliarden US-Dollar stehen hierfür zur Verfügung. Zurzeit liegt der Fokus auf dem Ausbau der digitalen Infrastruktur, wie beispielsweise dem kontinuierlichen Ausbau des 5G-Netzwerks. Darüber hinaus werden insbesondere Investitionen in Automatisierungs- und Digitalisierungsprojekte subventioniert.
Um unsere Kunden bei der Realisierung dieser ambitionierten Vision zu unterstützen, ist es auch in ehemaligen Niedriglohnländern wie der Volksrepublik China zwingend notwendig und in unseren Beratungsprojekten gängige Praxis, die Möbelfertigung als Gesamtsystem zu betrachten. Erst durch das richtige Zusammenspiel von geeigneten Softwaresystemen im vertikalen Prozess und einer durchgängig passenden Betriebs- und Fertigungsorganisation, können die hochflexiblen und automatisierten Maschinen und Anlagen zum Zeitpunkt des Produktionsstarts mit der heute wohl wichtigsten Ressource versorgt werden: den vollständigen Daten.
Industrie 4.0 und MIC 2025
Impuls für diese Entwicklung war unter anderem die Idee der Industrie 4.0 aus dem deutschen Sprachraum. Während in China die Regierung maßgeblich vorgibt, wohin die Reise gehen soll und dies stark subventioniert, treiben beispielsweise in Deutschland die Unternehmen selbst die Digitalisierung und Automatisierung der Branche voran. Die Initiative Made in China 2025 (kurz MIC 2025) ist hierbei nur eine Etappe auf Chinas Ziel zum weltweiten Produktions- und Technologieführer: Das Ziel Chinas ist, bis 2035 den Anschluss an die Weltmarktführer geschafft zu haben. Zum 100-jährigen Bestehen der Volksrepublik 2049 will das Ziel der Weltmarktführerschaft erreicht sein.
Während in Deutschland die Entwicklung hin zur „Industrie 4.0“ bereits seit einigen Jahren mehr oder weniger schnell voranschreitet, befindet sich ein Großteil der Unternehmen in China noch am Anfang der notwendigen Transformation. In Deutschland wird ein nachhaltiger Ansatz verfolgt: durch die Entwicklung gemeinsamer Standards und Normen soll die spätere Adaption in der Breite schneller und reibungsloser von Statten gehen.
In China erweist sich in der Praxis bei der Digitalisierung eine häufig verwendete Phrase als Vorteil: „Cha bu duo“, was in Deutsch etwa mit „gut genug“ zu übersetzen wäre. Man beginnt häufig mit einem Prototypen, der später so lange verändert und optimiert wird, bis er den gewünschten Zweck erfüllt. Eine sehr ähnliche Methodik wird im Bereich der Softwareentwicklung als „SCRUM“, im Bereich der physischen Produktentwicklung als „rapid prototyping“ bezeichnet. Ziel ist es, in kurzer Zeit ein funktionierendes Produkt zu erhalten, welches die Minimalanforderungen erfüllt. Die weitere Detaillierung und Optimierung erfolgt dann direkt am Prototypen, wodurch Ideen schneller in die Praxis gebracht werden. In China entstehen dadurch häufig Insellösungen, die aber durchaus praktikabel sind und hervorragend funktionieren.
In der täglichen Praxis stellen wir trotz starken Unterschieden in der Mentalität fest, dass unabhängig ob in der Volksrepublik China, in Deutschland oder an einem anderen Ort in der Welt, oftmals die gleichen Herausforderungen bestehen, wenn es um die Themen Digitalisierung und Automatisierung in der Möbelfertigung geht. Warum das so ist, zeigt das nachfolgende Beispiel eines Kundenprojekts eines chinesischen Büromöbelherstellers.
Mehr Maschinen = automatisierter, besser und mehr produzieren?
Ein Möbelhersteller in Ostchina plant einen Werksumzug in die Nachbarprovinz. Die Kundenanforderungen an das Projekt waren von Beginn an klar: Das Unternehmen möchte durch den Umzug der Fertigung seine Produktionskapazität deutlich steigern. Ebenso soll ein höherer Automatisierungsgrad und eine verbesserte Produktqualität erreicht werden. Des Weiteren galt es, die Abläufe in der Produktion durch den Umzug transparenter zu machen, um Durchlaufzeiten zu reduzieren und die Liefertreue gegenüber Händlern und Kunden zu optimieren.
Nach einer initialen Analyse der Geschäftsprozesse und der IT-Infrastruktur wurde schnell deutlich, dass die umfangreichen Ziele für das neue Werk nicht ausschließlich mit der Anschaffung von Maschinen und Anlagen erreicht werden kann. Zusätzlich mussten grundlegende Veränderungen im vertikalen Prozess und der Betriebsorganisation stattfinden. Eine erhöhte Produktivität kann nicht ausschließlich durch den Kauf neuer Maschinen erreicht werden – mit der Modernisierung gehen tiefgreifende, strategische Veränderungen im Unternehmen einher. Schuler Consulting hat den Hersteller auf diesem Veränderungsprozess bei der technischen und strategischen Fabrikplanung begleitet.
Die Ausgangslage, die uns bei dieser Unternehmensgruppe begegnete, ist Beratern in China nicht unbekannt. Viele Kunden äußern sehr ambitionierte Pläne, um die Digitalisierung und Automatisierung in ihrer Produktion voranzutreiben. Lokale oder international tätige Lieferanten bieten ihnen hierzu die passenden Produkte und technisch ausgereifte Lösungen an. Das informationstechnische Fundament im vertikalen Prozess von der Auftragserfassung bis zur Maschinensteuerung weist aber häufig substanzielle Defizite auf – deren Beseitigung benötigt neben einer klaren Strategie vor allem Zeit.
Technische und strategische Fabrikplanung
Zu Beginn des Projektes führte unser Team umfangreiche Kapazitätsanalysen durch. Hierbei betrachteten wir unterschiedliche Zukunftsszenarien, die den Entwicklungsstand der Produktion in fünf, zehn oder mehr Jahren abbilden. In Verbindung mit dem strategischen Entwicklungsplan des Unternehmens können anhand dieser Szenarien verschiedene Materialfluss- und Maschinenkonzepte betrachtet werden
Alle Schritte des phasenweisen geplanten Umzugs wurden in Zusammenarbeit mit dem Kunden geplant und in detaillierten Zeichnungen festgehalten. Darüber hinaus erstellte das Projektteam umfangreiche Einrichtungsverzeichnisse, mit deren Hilfe die Investitionen sowie alle notwendigen technische Installationen geplant werden können. Zukünftig wird neben vielen modernen Einzelmaschinen eine automatisierte Anlage im Bereich der Melamin-Teilefertigung zum Einsatz kommen. In diesem Fertigungsabschnitt wird eine Tandemkantenstraße samt vollautomatischem Umlauf mit einem Etagenpuffer, zwei Bohrmaschinen und zwei Bearbeitungszentren verkettet. Für die Konzeption der Anlage und die finalen Abstimmungen mit dem Kunden erstellten wir eine 3D-Abbildung, die alle Fertigungsabschnitte des neuen Werks visualisierte.
Daten erfassen: Vom Auftrag bis in die Fertigung
Parallel dazu ermittelte unser Team in mehreren Workshops die zentralen Anforderungen für die Auftragserfassung und die initiale Datengenerierung. Nach einem intensiven Austausch über die zukünftige Fertigungsphilosophie und einer weiteren Analyse der geplanten Maschinen und Anlagen, wurde gemeinsam beschlossen, weiterführende Softwareinvestitionen vorzunehmen. Neben der laufenden Implementierung eines neuen ERP-Systems, investiert der Möbelhersteller künftig in Systeme, die sowohl die Auftragserfassung als auch die Fertigungsplanung und -steuerung erleichtern.
Darüber hinaus analysierte das Team den Informationsfluss der Produktionsdaten: Sie analysierten, wie der Datenfluss zwischen den verschiedenen Maschinen und Stationen aussehen muss, damit sie mit den Software-Systemen kommunizieren können. Sprich, an welcher Stelle die Informationen wann verfügbar sein müssen und über welche Eingabemethoden sie an das MES- und ERP-System übergeben werden. Das Ziel war, eine höchstmögliche Transparenz hinsichtlich Fortschrittskontrolle und Auftragsstatus in der Fertigung zu erreichen.
Das Planungsprojekt konnten wir auf diesem Weg erfolgreich abschließen. Schon bald kann die vorgesehene Effizienz- und Kapazitätssteigerung im neuen Werk des Unternehmens Realität werden. Mit diesem Maßnahmenplan wird sich die Unternehmensgruppe zu einem der modernsten Büromöbelherstellern Asiens entwickeln. Unser Team von Schuler Consulting wird den Hersteller auf diesem Weg begleiten und ihn Zukunft auch bei der Implementierung der weiteren Maßnahmen unterstützen.
An diesem Projekt zeigt sich, was universell gilt: Nur mit einer ganzheitlichen Strategie, die die Unternehmensstrategie, die Maschinen- und IT-Konzepte berücksichtigt, gelingen die Digitalisierung und Automatisierung nachhaltig.
Autor: Lorenz Mannl, SCHULER Consulting Asien
Bilder: Erstellt mit iVP